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Ist die Kritik am deutschen Sozialstaat gerechtfertigt?

Der deutsche Sozialstaat steht politisch unter Druck – doch viele Kritikpunkte beruhen auf Fehlvorstellungen. Ein Faktencheck der Hans-Böckler-Stiftung zeigt: Wichtig sind echte Reformen statt pauschaler Kürzungen. 

Zwei Jahrzehnte nach Gerhard Schröders (SPD) umstrittener „Agenda 2010“ ist die Debatte um Einsparungen bei den Sozialleistungen präsenter denn je. Allerdings sichert der Sozialstaat weit mehr als nur Einkommen: Er stabilisiert die Gesellschaft, verringert Armut und gleicht Ungleichheiten aus. Im internationalen Vergleich sind die Sozialausgaben in Deutschland weder besonders hoch noch aus dem Ruder gelaufen – ein weitverbreiteter Mythos. Darauf weist die Hans-Böckler-Stiftung in einem Übersichtsbeitrag hin. 

Bürgergeld: Kleine Schritte, große Erwartungen

Ein Blick auf Details: Das Bürgergeld ist die Nachfolge des früheren Hartz-IV-Systems (offiziell: Arbeitslosengeld II). Mit der Reform der auslaufenden Legislaturperiode wurde ein neuer Schwerpunkt gesetzt. Statt auf möglichst schneller Vermittlung liegt der Fokus nun stärker auf Qualifizierung und nachhaltiger Integration in den Arbeitsmarkt.

Kommt es jedoch zur kompletten Leistungsverweigerung, etwa wenn Termine wiederholt grundlos nicht wahrgenommen oder zumutbare Angebote dauerhaft abgelehnt werden, können beim Bürgergeld Sanktionen greifen: ein umstrittener Aspekt. Studien zeigen, dass diese Strafmaßnahmen nur wenig wirksam sind und oft nicht zum gewünschten Erfolg führen. 

Gleichzeitig wird deutlich: Wer arbeitet, hat weiterhin mehr Geld zur Verfügung – der Abstand zum Bürgergeld bleibt gewahrt. Dennoch reicht das neue System nicht, um Armut zuverlässig zu verhindern, insbesondere wegen steigender Wohn- und Energiekosten.

Kindergrundsicherung: Potenzial trotz Schwächen

Die geplante, aber nicht umgesetzte Kindergrundsicherung könnte Kinderarmut effektiv verringern, betonen die Böckler-Expertinnen und -Experten. Rund 1,5 Millionen Kinder würden erstmals die ihnen zustehenden Leistungen erhalten. Doch die Höhe der Leistungen bleibt hinter dem tatsächlichen Bedarf zurück. Berechnungen zeigen, dass bis zu 190 Euro monatlich mehr nötig wären, um die Grundbedürfnisse angemessen zu decken. 

Auch die Kinderbetreuung bleibt ein Sorgenpunkt: Fehlende Plätze und eingeschränkte Öffnungszeiten belasten vor allem berufstätige Eltern stark.

Rente: Reformbedarf trotz Fortschritt

Weiter geht es mit dem Rentenpaket II. Es wurde am 29. Mai 2024 vom Bundeskabinett beschlossen und soll das Rentenniveau bis 2040 stabilisieren: laut Böckler-Analyse ein wichtiger Schritt, um Altersarmut zu verhindern, besonders für Menschen mit niedrigen Einkommen. 

Private Altersvorsorge ist für viele Menschen kaum finanzierbar – vor allem für Geringverdienende oder Menschen mit unterbrochenen Erwerbsbiografien. Auch birgt die geplante Kapitaldeckung, also die Finanzierung der Rente durch angespartes Kapital, erhebliche Risiken: etwa durch Marktschwankungen, Inflation oder hohe Verwaltungskosten. Dennoch folgt sie weiterhin dem Prinzip kollektiver Sicherheit – das heißt, sie ist als ergänzendes System zur gesetzlichen Rente gedacht.

Auch gingen die Forderungen nach einem Renteneintritt mit 69 Jahren an der Realität vieler Erwerbstätiger vorbei, heißt es in der Analyse. Über 20 Prozent befürchteten schon heute, ihren Beruf nicht bis 67 ausüben zu können.

Investitionsbedarf und wachsende Ungleichheit

Bleibt als Fazit: Der Sozialstaat ist kein Auslaufmodell, sondern eine tragende Säule für sozialen Zusammenhalt und wirtschaftliche Stabilität. Reformen wie das Bürgergeld oder die Kindergrundsicherung gehen in die richtige Richtung, bleiben aber oft halbherzig. 

Statt Kürzungsdebatten brauche es eine ehrliche Auseinandersetzung mit den realen Herausforderungen – von Armut über Rentensicherheit bis hin zu Investitionen in Bildung und Infrastruktur, heißt es von der Hans-Böckler-Stiftung. Der Staat müsse dafür sorgen, dass niemand zurückgelassen werde. Aus gutem Grund: Menschen mit geringen Einkommen verlieren zunehmend das Vertrauen in die Demokratie. 

Um gegenzusteuern, braucht es mehr soziale Absicherung, bessere Löhne, mehr Qualifizierungsangebote – und eine gerechtere Finanzierung über eine Reform der Schuldenbremse und eine höhere Besteuerung großer Vermögen.

Michael van den Heuvel

Quelle

Hans-Böckler-Stiftung: Der Sozialstaat in Deutschland, 10. März 2025