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16. Dezember 2024

Wachsende Einkommensungleichheit gefährdet Teilhabe: Tarifbindung ausweiten, Grundsicherung anheben

Der aktuelle WSI-Verteilungsbericht zeigt eine wachsende Einkommensungleichheit in Deutschland seit 2010, sowie steigende Armut und soziale Benachteiligung. Für die Politik ist es höchste Zeit, zu handeln.

Forschende des Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts (WSI) der Hans-Böckler-Stiftung analysieren regelmäßig die Einkommens- und Vermögensverteilung in Deutschland. In ihrem kürzlich veröffentlichten WSI-Verteilungsbericht schlagen sie Alarm. Grundlage ihrer Arbeit sind repräsentative Datenquellen wie das Sozio-oekonomische Panel (SOEP) und die Lebenslagenbefragung der Hans-Böckler-Stiftung.

Einkommensungleichheit auf neuem Höchststand

Laut Dorothee Spannagel und Jan Brülle vom WSI hat die Einkommensungleichheit in Deutschland einen neuen Höchststand erreicht.

Parallel dazu ist auch die Armutsquote spürbar gestiegen: 17,8 Prozent der Bevölkerung lebten 2021 in Armut, 2010 waren es lediglich 14,2 Prozent. Armut ist definiert als Einkommen von weniger als 60 Prozent des mittleren Einkommens. Noch alarmierender ist die Zunahme der „strengen Armut“, also Haushalte mit einem Einkommen unter 50 Prozent des mittleren Einkommens. Hier stieg die Quote von 7,8 Prozent auf 11,3 Prozent. In absoluten Zahlen ausgedrückt, am Beispiel eines Single-Haushalts, beträgt das monatliche Einkommen bei Armut höchstens 1.350 Euro, bei strenger Armut maximal 1.120 Euro.

Während die Armutsquote wuchs, ging der Anteil der Menschen in „prekären“ Einkommensverhältnissen (60-80 Prozent des Medians) zurück. Die Forschenden bezeichnen dies als „Polarisierung innerhalb der unteren Hälfte der Einkommensverteilung“. Die Einkommen armer Menschen stiegen über die letzten Jahre real deutlich langsamer als bei Personen mit prekären Einkommen oder in der Mittelschicht.

Materielle und immaterielle Folgen

Armut in Deutschland äußert sich in konkreten alltäglichen Entbehrungen. Bereits 2021, vor der Inflationswelle, konnten sich fast jeder zehnte Mensch in Armut keine neue Kleidung leisten, obwohl dies nötig gewesen wäre. Rund 43 Prozent hatten keinerlei finanzielle Rücklagen. Viele konnten es sich nicht leisten, regelmäßig Freunde einzuladen oder an Freizeitaktivitäten wie Kinobesuchen teilzunehmen.

Menschen in Armut sind häufiger alleinstehend und haben nach eigener Einschätzung weniger enge soziale Kontakte. Die begrenzten finanziellen Möglichkeiten erschweren ihre soziale Teilhabe erheblich und verstärken ihre Isolation. Auch die gesellschaftliche Teilhabe wird massiv eingeschränkt.

Soziale Teilhabe bezieht sich auf die Teilnahme an sozialen Beziehungen und Aktivitäten, etwa Freundschaften, familiäre Bindungen oder Freizeitgestaltung. Sie beschreibt die Möglichkeit, im Alltag soziale Kontakte zu pflegen und aktiv am zwischenmenschlichen Leben teilzuhaben. Gesellschaftliche Teilhabe hingegen hat eine umfassendere Perspektive mit Fokus auf der aktiven Teilnahme am öffentlichen und politischen Leben, an Bildung, Arbeit oder Kultur.

Maßnahmen gegen die „Teilhabekrise“ in Deutschland

Spannagel und Brülle warnen deshalb vor einer „Teilhabekrise“, die materielle und emotionale Dimensionen habe. Und Prof. Dr. Bettina Kohlrausch, wissenschaftliche Direktorin des WSI, betont die Notwendigkeit, das „Teilhabeversprechen“ der sozialen Marktwirtschaft glaubhaft zu erneuern. Die Politik müsse nicht nur bewährte Instrumentarien wie Tarifverträge und eine auskömmliche gesetzliche Rente stärken, sondern auch in Bildung, Gesundheitsversorgung und in den öffentlichen Nahverkehr investieren.

Außerdem raten Spannagel und Brülle, die Grundsicherungsleistungen anzuheben, um ein Mindestmaß an Teilhabe zu gewährleisten. Darüber hinaus sollten gezielte Qualifizierungsmaßnahmen für benachteiligte Gruppen angeboten werden. Die Förderung der Vereinbarkeit von Familie und Beruf sowie eine stabile Sozialversicherung seien ebenfalls wichtig, um die gesellschaftliche Teilhabe zu stärken.

Die Forschenden warnen, gesellschaftliche Gruppen gegeneinander auszuspielen. Statt die ohnehin zu knappen Leistungen beim Bürgergeld weiter zu kürzen, um den Abstand zwischen Sozialleistungen und Erwerbseinkommen zu erhöhen, sei es „viel sinnvoller, Niedriglöhne wirksam zu bekämpfen und Tarifbindung zu stärken“, schreiben sie. Dem kann aus ADEXA-Sicht nur zugestimmt werden.

Michael van den Heuvel

Quellen

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